Mit der Einführung der CSRD (Corporate Sustainability Reporting Directive) hat sich die Logik der Nachhaltigkeitsberichterstattung grundlegend gewandelt. Es geht nicht mehr darum, bunte Geschichten über ausgewählte Leuchtturmprojekte zu erzählen. Es geht um harte Fakten, Risiken und messbare Auswirkungen.

Doch worüber genau muss ein Unternehmen berichten? Über alles? Nein. Der Filter, der entscheidet, welche Themen relevant sind und welche weggelassen werden können, ist das Prinzip der Doppelten Wesentlichkeit (Double Materiality).

Wer dieses Prinzip nicht sauber anwendet, riskiert nicht nur einen unvollständigen Bericht, sondern übersieht womöglich existenzielle Risiken.

Was ist Doppelte Wesentlichkeit? Eine Definition

Bisherige Standards konzentrierten sich oft primär darauf, wie sich externe Faktoren auf den Unternehmenswert auswirken (finanzielle Sicht). Die CSRD fordert nun verpflichtend die Betrachtung aus zwei Perspektiven. Ein Thema gilt als „wesentlich“ (und damit berichtspflichtig), sobald es in mindestens einer der beiden Dimensionen relevant ist.


1. Die Impact-Wesentlichkeit (Inside-Out-Perspektive)

Hier geht es um die Auswirkungen Ihres Unternehmens auf die Welt.

2. Die Finanzielle Wesentlichkeit (Outside-In-Perspektive)

Hier geht es um die Auswirkungen der Welt auf Ihr Unternehmen.


Warum das „ODER“ entscheidend ist

Ein häufiges Missverständnis ist, dass ein Thema in beiden Kategorien wesentlich sein muss, um im Bericht zu landen. Das ist falsch. Die CSRD verlangt:

Ein Nachhaltigkeitsaspekt ist wesentlich, wenn er die Kriterien der Impact-Wesentlichkeit ODER die der finanziellen Wesentlichkeit erfüllt.

Natürlich gibt es oft Überschneidungen (z. B. führen hohe CO₂-Emissionen [Impact] langfristig oft zu CO₂-Steuer-Kosten [Finanziell]), aber die Prüfung muss getrennt erfolgen.


Die Rolle für Strategie und Reporting

Die Wesentlichkeitsanalyse ist keine reine Compliance-Übung, die man einmal alle paar Jahre für den Wirtschaftsprüfer macht. Sie ist ein strategisches Steuerungsinstrument.

1. Bedeutung für den Bericht (ESRS)

Die Wesentlichkeitsanalyse ist der „Gatekeeper“ für die ESRS-Standards.

2. Bedeutung für die Unternehmensstrategie

Die Analyse zwingt das Management, sich ehrlich mit Risiken auseinanderzusetzen.

Der Kompass im Datendschungel

Die Doppelte Wesentlichkeit ist komplex, aber sie ist der wichtigste Schritt auf dem Weg zur CSRD-Compliance. Sie verhindert, dass Unternehmen in Datenfriedhöfen ertrinken, indem sie den Fokus auf das lenkt, was wirklich zählt: Die Themen, bei denen Ihr Unternehmen die Welt verändert – und die Themen, die Ihr Unternehmen verändern.

Starten Sie Ihre Analyse frühzeitig. Sie ist das Fundament, auf dem Ihr gesamter Nachhaltigkeitsbericht steht.


Wesentlichkeitsanalyse in der Praxis durchführen

Wesentlichkeitsanalyse in der Praxis: Ein 5-Schritte-Fahrplan

Die Theorie der Doppelten Wesentlichkeit ist verstanden – doch wie setzt man sie in einem Unternehmen um? Die Wesentlichkeitsanalyse ist keine Aufgabe, die man an einem Nachmittag im stillen Kämmerlein erledigt. Sie ist ein strukturierter Prozess, der Dokumentation und den Einbezug verschiedener Perspektiven erfordert.

Hier ist ein bewährter Prozess in fünf Schritten, der sich an den Vorgaben der ESRS 1 (AR 16) orientiert.

Schritt 1: Stakeholder-Mapping & Einbindung

Bevor Sie Themen bewerten können, müssen Sie wissen, wen Ihre Geschäftstätigkeit betrifft.

Schritt 2: Erstellung der „Longlist“ (Potenzielle Themen)

Erstellen Sie eine breite Liste aller potenziell relevanten Nachhaltigkeitsthemen.

Schritt 3: Bewertung der IROs (Impacts, Risks, Opportunities)

Dies ist der Kern der Arbeit. Für jedes Thema auf der Longlist müssen Sie nun die Auswirkungen (Impacts), Risiken und Chancen bewerten.

A) Bewertung der Impact-Wesentlichkeit (Inside-Out)

Bewerten Sie negative und positive Auswirkungen anhand von vier Kriterien:

  1. Ausmaß (Scale): Wie schwerwiegend ist die Auswirkung? (z. B. Menschenrechtsverletzung vs. Lärmbelästigung).
  2. Umfang (Scope): Wie weit verbreitet ist die Auswirkung? (z. B. ein Standort vs. globale Lieferkette).
  3. Unabänderlichkeit (Irremediability): Kann der Schaden wiedergutgemacht werden? (Nur bei negativen Auswirkungen relevant).
  4. Wahrscheinlichkeit (Likelihood): Wie wahrscheinlich tritt das Ereignis ein?

B) Bewertung der Finanziellen Wesentlichkeit (Outside-In)

Bewerten Sie Risiken und Chancen, die den Cashflow oder die Unternehmensentwicklung beeinflussen:

  1. Größenordnung (Magnitude): Wie hoch ist der potenzielle finanzielle Schaden oder Gewinn?
  2. Wahrscheinlichkeit (Likelihood): Wie wahrscheinlich ist der Eintritt des finanzwirksamen Ereignisses?

Schritt 4: Schwellenwerte definieren (Die „Shortlist“)

Sie können nicht über alles berichten. Sie müssen eine Grenze ziehen (Threshold).

Schritt 5: Validierung und Dokumentation

Da der Nachhaltigkeitsbericht geprüft wird (Limited Assurance), ist der Weg zum Ziel genauso wichtig wie das Ziel selbst.

Praxis-Tipp: Mut zur Lücke (mit Begründung)

Wenn Sie feststellen, dass ein Thema für Sie nicht wesentlich ist, ist das ein valides Ergebnis. Sie müssen dann keine Datenpunkte dazu sammeln. Aber Vorsicht: Bei Kernthemen wie Klimawandel (E1) erwartet der Gesetzgeber eine sehr detaillierte Begründung, falls Sie dieses Thema als „unwesentlich“ einstufen. In der Praxis ist E1 für fast jedes produzierende Unternehmen wesentlich.