Mit der Einführung der CSRD (Corporate Sustainability Reporting Directive) hat sich die Logik der Nachhaltigkeitsberichterstattung grundlegend gewandelt. Es geht nicht mehr darum, bunte Geschichten über ausgewählte Leuchtturmprojekte zu erzählen. Es geht um harte Fakten, Risiken und messbare Auswirkungen.
Doch worüber genau muss ein Unternehmen berichten? Über alles? Nein. Der Filter, der entscheidet, welche Themen relevant sind und welche weggelassen werden können, ist das Prinzip der Doppelten Wesentlichkeit (Double Materiality).
Wer dieses Prinzip nicht sauber anwendet, riskiert nicht nur einen unvollständigen Bericht, sondern übersieht womöglich existenzielle Risiken.
Was ist Doppelte Wesentlichkeit? Eine Definition
Bisherige Standards konzentrierten sich oft primär darauf, wie sich externe Faktoren auf den Unternehmenswert auswirken (finanzielle Sicht). Die CSRD fordert nun verpflichtend die Betrachtung aus zwei Perspektiven. Ein Thema gilt als „wesentlich“ (und damit berichtspflichtig), sobald es in mindestens einer der beiden Dimensionen relevant ist.
1. Die Impact-Wesentlichkeit (Inside-Out-Perspektive)
Hier geht es um die Auswirkungen Ihres Unternehmens auf die Welt.
- Frage: Welche positiven oder negativen Auswirkungen haben unsere Geschäftstätigkeit und unsere Lieferkette auf Menschen und Umwelt?
- Beispiele:
- Emission von Treibhausgasen (negativer Impact).
- Verletzung von Menschenrechten bei Zulieferern (negativer Impact).
- Schaffung von Arbeitsplätzen in strukturschwachen Regionen (positiver Impact).
- Ziel: Transparenz über den ökologischen und sozialen Fußabdruck.
2. Die Finanzielle Wesentlichkeit (Outside-In-Perspektive)
Hier geht es um die Auswirkungen der Welt auf Ihr Unternehmen.
- Frage: Welche Nachhaltigkeitsaspekte lösen finanzielle Risiken oder Chancen aus, die den Cashflow, die Entwicklung oder die Leistung des Unternehmens beeinflussen?
- Beispiele:
- Dürren, die zur Wasserknappheit in Produktionsstätten führen (Physisches Risiko).
- Einführung von CO₂-Steuern, die Produkte verteuern (Transitorisches Risiko).
- Reputationsverlust durch „Greenwashing“-Vorwürfe (Marktrisiko).
- Entwicklung neuer, nachhaltiger Produkte, die Marktanteile sichern (Chancen).
- Ziel: Sicherstellung der Zukunftsfähigkeit und finanziellen Stabilität.
Warum das „ODER“ entscheidend ist
Ein häufiges Missverständnis ist, dass ein Thema in beiden Kategorien wesentlich sein muss, um im Bericht zu landen. Das ist falsch. Die CSRD verlangt:
Ein Nachhaltigkeitsaspekt ist wesentlich, wenn er die Kriterien der Impact-Wesentlichkeit ODER die der finanziellen Wesentlichkeit erfüllt.
Natürlich gibt es oft Überschneidungen (z. B. führen hohe CO₂-Emissionen [Impact] langfristig oft zu CO₂-Steuer-Kosten [Finanziell]), aber die Prüfung muss getrennt erfolgen.
Die Rolle für Strategie und Reporting
Die Wesentlichkeitsanalyse ist keine reine Compliance-Übung, die man einmal alle paar Jahre für den Wirtschaftsprüfer macht. Sie ist ein strategisches Steuerungsinstrument.
1. Bedeutung für den Bericht (ESRS)
Die Wesentlichkeitsanalyse ist der „Gatekeeper“ für die ESRS-Standards.
- Wenn Sie feststellen, dass das Thema „Biodiversität“ (ESRS E4) für Ihr Unternehmen nicht wesentlich ist (weder finanziell noch vom Impact her), müssen Sie darüber auch nicht berichten.
- Sie müssen allerdings begründen, warum es nicht wesentlich ist (bei Klimawandel/E1 ist die Hürde für den Ausschluss sehr hoch).
- Ohne Wesentlichkeitsanalyse kein Bericht: Sie können nicht wissen, welche der über 1.000 Datenpunkte Sie sammeln müssen, wenn Sie nicht wissen, welche Themen relevant sind.
2. Bedeutung für die Unternehmensstrategie
Die Analyse zwingt das Management, sich ehrlich mit Risiken auseinanderzusetzen.
- Risikomanagement: Finanzielle Risiken durch Klimawandel werden oft unterschätzt, bis sie quantifiziert werden.
- Stakeholder-Dialog: Für die Impact-Analyse müssen Sie mit Stakeholdern (Kunden, Mitarbeitenden, NGOs, Anwohnern) sprechen. Das liefert wertvolle Einblicke in Markterwartungen.
- Zukunftsfähigkeit: Wer heute erkennt, dass sein Geschäftsmodell auf Ressourcenverschwendung basiert (negativer Impact), kann gegensteuern, bevor Regulierungen oder Marktveränderungen (finanzielles Risiko) das Modell unrentabel machen.
Der Kompass im Datendschungel
Die Doppelte Wesentlichkeit ist komplex, aber sie ist der wichtigste Schritt auf dem Weg zur CSRD-Compliance. Sie verhindert, dass Unternehmen in Datenfriedhöfen ertrinken, indem sie den Fokus auf das lenkt, was wirklich zählt: Die Themen, bei denen Ihr Unternehmen die Welt verändert – und die Themen, die Ihr Unternehmen verändern.
Starten Sie Ihre Analyse frühzeitig. Sie ist das Fundament, auf dem Ihr gesamter Nachhaltigkeitsbericht steht.
Wesentlichkeitsanalyse in der Praxis durchführen
Wesentlichkeitsanalyse in der Praxis: Ein 5-Schritte-Fahrplan
Die Theorie der Doppelten Wesentlichkeit ist verstanden – doch wie setzt man sie in einem Unternehmen um? Die Wesentlichkeitsanalyse ist keine Aufgabe, die man an einem Nachmittag im stillen Kämmerlein erledigt. Sie ist ein strukturierter Prozess, der Dokumentation und den Einbezug verschiedener Perspektiven erfordert.
Hier ist ein bewährter Prozess in fünf Schritten, der sich an den Vorgaben der ESRS 1 (AR 16) orientiert.
Schritt 1: Stakeholder-Mapping & Einbindung
Bevor Sie Themen bewerten können, müssen Sie wissen, wen Ihre Geschäftstätigkeit betrifft.
- Identifikation: Wer sind Ihre betroffenen Stakeholder? (z. B. Mitarbeitende, Kunden, Lieferanten, Anwohner, Investoren, NGOs).
- Dialog: Sie müssen nicht mit jedem einzeln sprechen, aber Sie benötigen deren Perspektive. Nutzen Sie bestehende Formate (Mitarbeiterbefragungen, Kundengespräche) oder führen Sie gezielte Workshops und Experteninterviews durch, um die Sichtweise der „betroffenen Gruppen“ zu verstehen.
Schritt 2: Erstellung der „Longlist“ (Potenzielle Themen)
Erstellen Sie eine breite Liste aller potenziell relevanten Nachhaltigkeitsthemen.
- Basis: Nutzen Sie die Liste der Themen aus den ESRS (AR 16 in ESRS 1) als Startpunkt (z. B. Klimawandel, Wasser, eigene Belegschaft).
- Ergänzung: Fügen Sie unternehmensspezifische Themen hinzu, die in den Standards vielleicht fehlen, aber für Ihr Geschäftsmodell relevant sind.
Schritt 3: Bewertung der IROs (Impacts, Risks, Opportunities)
Dies ist der Kern der Arbeit. Für jedes Thema auf der Longlist müssen Sie nun die Auswirkungen (Impacts), Risiken und Chancen bewerten.
A) Bewertung der Impact-Wesentlichkeit (Inside-Out)
Bewerten Sie negative und positive Auswirkungen anhand von vier Kriterien:
- Ausmaß (Scale): Wie schwerwiegend ist die Auswirkung? (z. B. Menschenrechtsverletzung vs. Lärmbelästigung).
- Umfang (Scope): Wie weit verbreitet ist die Auswirkung? (z. B. ein Standort vs. globale Lieferkette).
- Unabänderlichkeit (Irremediability): Kann der Schaden wiedergutgemacht werden? (Nur bei negativen Auswirkungen relevant).
- Wahrscheinlichkeit (Likelihood): Wie wahrscheinlich tritt das Ereignis ein?
B) Bewertung der Finanziellen Wesentlichkeit (Outside-In)
Bewerten Sie Risiken und Chancen, die den Cashflow oder die Unternehmensentwicklung beeinflussen:
- Größenordnung (Magnitude): Wie hoch ist der potenzielle finanzielle Schaden oder Gewinn?
- Wahrscheinlichkeit (Likelihood): Wie wahrscheinlich ist der Eintritt des finanzwirksamen Ereignisses?
Schritt 4: Schwellenwerte definieren (Die „Shortlist“)
Sie können nicht über alles berichten. Sie müssen eine Grenze ziehen (Threshold).
- Legen Sie fest, ab welchem Punktwert (Score aus Schritt 3) ein Thema als „wesentlich“ gilt.
- Alles, was über dieser Schwelle liegt, kommt auf die Shortlist und muss im Nachhaltigkeitsbericht gemäß den ESRS-Standards offengelegt werden.
- Wichtig: Die Festlegung der Schwellenwerte ist eine Management-Entscheidung und muss begründet werden.
Schritt 5: Validierung und Dokumentation
Da der Nachhaltigkeitsbericht geprüft wird (Limited Assurance), ist der Weg zum Ziel genauso wichtig wie das Ziel selbst.
- Sign-off: Die Geschäftsführung oder der Vorstand muss das Ergebnis der Wesentlichkeitsanalyse offiziell absegnen.
- Audit Trail: Dokumentieren Sie jeden Schritt. Warum wurde Thema X ausgeschlossen? Auf welcher Datenbasis wurde Thema Y als „hochriskant“ eingestuft? Der Wirtschaftsprüfer wird genau diese Dokumentation anfordern.
Praxis-Tipp: Mut zur Lücke (mit Begründung)
Wenn Sie feststellen, dass ein Thema für Sie nicht wesentlich ist, ist das ein valides Ergebnis. Sie müssen dann keine Datenpunkte dazu sammeln. Aber Vorsicht: Bei Kernthemen wie Klimawandel (E1) erwartet der Gesetzgeber eine sehr detaillierte Begründung, falls Sie dieses Thema als „unwesentlich“ einstufen. In der Praxis ist E1 für fast jedes produzierende Unternehmen wesentlich.